Fachtagung "Leben wollen - Suizidprävention für Jugendliche und junge Erwachsene"

Rund 500 Personen aus den Bereichen psychosoziale Beratung, Psychologie, Psychotherapie, Klinik, Sozialpädagogik verfolgten die Tagung in Präsenz bzw. Online.
Die beiden Vortragenden Univ. Prof. Dr. Paul Plener, Wien und Dipl. Päd. Petra Risau, Berlin betonten die Wichtigkeit der Begleitung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch schwere Krisen hindurch.
2023 wurden laut Plener 1212 in Österreich Suizide verübt, davon 32 von jungen Menschen unter 19 Jahren. Viele Jugendliche fühlten sich in Österreich stark belastet. In einer Mental Health Studie gab 1/3 der befragten jungen Menschen an, dass sie sich in den letzten zwei Wochen stark belastet fühlten.
Jugendliche erlebten in Krisen großen seelischen Schmerz. Es sei wichtig, zwischen Suizidgedanken, Suizidversuchen und Suizid zu unterscheiden. Ein Suizidversuch sei oftmals ein Hilfeschrei. Der Schmerz solle weggehen.
Eine Zunahme der Suizidversuche nach Corona wurde in einer Metastudie festgestellt. Im Vergleich innerhalb Europas sei die Rate der Suizidversuche in Österreich höher als in anderen Ländern.
Risikofaktoren für Suizidalität im Jugendalter seien u.a.: das Vorliegen von psychotischen Störungen, affektiven Störungen, Depression, posttraumatischer Belastungsstörung, selbstschädigendem Verhalten, Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, Hoffnungslosigkeit, einer Angst- oder Panikstörung. Das Miterleben bei anderen spiele auch eine große Rolle: Zum Beispiel, wenn Jugendliche Suizidgedanken oder Suizidversuche im Freundeskreis oder ein Suizid(versuch) durch einen Elternteil erleben.
Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahre reagierten sehr emotional auf Belastungen. Ausgrenzung, Mobbing oder das Ende einer Liebesbeziehung könnten auch Suizidgedanken auslösen.
Suizidalität sei laut Paul Plener ein hochdynamischer Prozess und könne sich schnell aufbauen. Das Denken über Suizid könne 1 bis drei Stunden andauern. Die stärkste Ausprägung von Verlangen und Intention dauere bis zu 3 Stunden. Das heißt, dass Gedanken 3 Tage später schon wieder ganz anderes sein könnten.
Mithilfe technischer Möglichkeiten könne es in Zukunft möglich werden, dass digitale Geräte, z.B. Handys Daten zu emotionalem Stress, Schlafstörungen oder dysfunktionaler Kommunikation aufzeichneten und Bezugspersonen oder Jugendliche selbst Informationen über eine etwaige Suizidalität bekommen könnten.
Wichtig für Jugendliche sei „Safety Planning“ – einen Sicherheitsplan zu erstellen. Den/die Jugendliche:n fragen: „Was sind Warnsignale? Welchen Menschen fragst du um Hilfe? Was kannst du tun, um deine Gedanken auf etwas anderes zu lenken? Welche Menschen oder Gruppen helfen dir, dich abzulenken? Welche professionelle Organisation kannst du kontaktieren? Wie kannst du deine Umgebung sicher gestalten?“ „Die 10 Minuten seien gut investiert!“, so Paul Plener. Auch Angehörige würden in das Safety Planning mit einbezogen.
Was wirkt? Wichtig sei es, immer zu überlegen: „Was braucht die spezielle Person in diesem speziellen Fall?“ Was hilft zum Beispiel einem Menschen, der Stress mit einem hohen Schuldenberg hat? Die Schuldnerberatung.“ Zudem brauche es eine Kontrolle von Hotspots, die Kontrolle von Medikamenten wie Paracetamol oder Ketamin und die Behandlung von Depressionen. Die Postvention fungiere einerseits als Nachsorge, gleichzeitig aber auch bereits als Prävention für die Angehörigen. Ein großes Problem in Österreich stelle laut Paul Plener die unzureichende Situation von vielen fehlenden kostenfreien Psychotherapieplätzen dar.
Die Schulbasierte Suizidprävention solle in Zukunft eine größere Rolle spielen. Nach der Seyle Studie könnten fünf Schulstunden zu Mental Health die Suizidalität halbieren.
Ein wunderbares Schulprojekt mit ausgearbeiteten Unterrichtsstunden beschreibe die Website https://meine-eule.at. Die Romanfigur Harry Potter erlebe unglaublich viele Mental Health Situationen. Englischlehrer:innen könnten Harry Potter 3 mit den Schüler:innen lesen und mit ihnen überlegen, wie Harry Potter mit seinen Problemen umgeht und sie löst.
Petra Risau, Lehrende und Supervisorin in der Onlineberatung Berlin berichtete im zweiten Vortrag über die Wirksamkeit der verschiedenen Formen der Onlineberatung.
Onlineberatung passiere laut Petra Risau nicht nebenbei. „Die Frage ist: Welche Beratung ist für wen sinnvoll?“, so Risau. Optimal sei der flexible Einsatz der Medien zur Prävention, Begleitung und Nachsorge. E-Mail-Beratung sei z.B. sinnvoll für Menschen, die gerne schreiben, um ihre Gedanken zu sortieren, die aber nicht sofort eine Antwort benötigen. Videoberatung sei hilfreich, wenn Menschen an verschiedenen Orten seien.
Für einen Austausch in akut schwierigen Situationen könne die Beratung über Messenger sehr entlastend wirken. Die Antwort erfolge unmittelbar nach der Kontaktaufnahme. Junge Menschen telefonieren nicht gerne. Somit erlebe die Beratung über Messenger gerade eine große Beliebtheit.
Auch Sprachnachrichten könnten in der Beratung eingesetzt werden, z.B., wenn Klient:innen nicht so gut schreiben könnten.
Onlineberatung sei laut Frau Risau ähnlich effektiv wie Face-to-Face-Beratung. Durch die ungeteilte Aufmerksamkeit der beratenden Person könne eine gute Beziehung entstehen.
Die großen Vorteile der Onlineberatung seien die zeitliche Verfügbarkeit und die Kontrolle. „Ich kann entscheiden, wann ich schreibe, wie lange und wann ich wieder aussteige“, so Petra Risau. Die Onlineberatung könne niederschwellig erreicht werden. Und durch die Kanalreduktion (Hör- oder Sehkanal werden nicht bedient) entstehe ein ganz eigenes Vertrauen. „Es entsteht Nähe durch Distanz. Im Schutz der Anonymität traue ich mich, über meine Gedanken zu schreiben“, erzählt Risau.
Akute Krisen könnten in der Onlineberatung früh erkannt werden, dies sei ein weiterer Vorteil. Im besten Fall finde Onlineberatung nicht isoliert, sondern in Verschränkung mit der Face-to-Face-Beratung statt – als sog. Blended Councelling.
Wichtige Interventionen bei Suizidalität von Jugendlichen:
- Jede Anfrage ernst nehmen
- Erzählräume schaffen
- Die Schwere anerkennen, nicht belehrend oder mit Lösungen kommen
- Klares Ansprechen: „Willst du dich töten? Du musst mit deinen Gedanken nicht alleine bleiben. Gemeinsam können wir schauen, was dich gerade besonders hinunterzieht und was dir in dieser Situation Halt geben könnte.“
- mit der Ambivalenz arbeiten, hin und her pendeln zwischen: Ich will nicht sterben, ich will aber auch nicht leben.
Wichtig für Beratungseinrichtungen sei es, Kriseninterventionsleitfäden zu entwickeln und bei Bedarf in der Onlineberatung den Datenschutz aufzuheben, um Hilfemaßnahmen für suizidale Jugendliche zu organisieren.
Hier finden Sie die Präsentationen der Vorträge:
Präsentation Vortrag Paul Plener
Präsentation Vortrag Petra Risau
Und hier können Sie den Live-Stream der Veranstaltung nachschauen:
Fachtagung "Leben wollen" - Livestream
Im Anschluss daran fand eine Podiumsdiskussion statt.
Nachbericht von Mag. Andrea Holzer-Breid, BEZIEHUNGLEBEN.AT