Am Schrein der Heiligen Barbara
Unser Weg hierher ist eine Wallfahrt, ein Weg des Glaubens. Ist eh klar, werdet ihr sagen. Aber warum betone ich es dann? Unsere Fahrt ist keine Mathematikolympiade und kein Kindergartenausflug.
Wenn wir mit einem klassisch wissenschaftlichen Blick unseren Besuch hier analysieren, müssen wir feststellen: Ob die Person Barbara an der Wende vom dritten zum vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung wirklich gelebt hat, können wir nicht feststellen. Wir können nur sagen, dass die Barbara-Legende um 700 das erste Mal auftaucht. Die abgeschlossene Überlieferung finden wir erst bei Simeon Metaphrastes um das Jahr 1000, also noch einmal 300 Jahre später. Also keine Gewissheit und Exaktheit wie bei einem Telefonbuch oder einem ordentlich recherchierten Zeitungsbericht.
"Aber wir haben hier ja ihre Gebeine! Wir sitzen direkt davor." Pfarrer Don Enzo hat uns gerade erzählt, dass es Barbarareliquen auch in Rieti gibt und in Paternò in Sizilien, ebenso wie in Dignano bei Pula - wenn er uns auch beteuert hat, dass die Gebeine hier wirklich komplett seien. Ich würde sagen, die sterblichen Überreste in diesem Sarkophag erzählen historisch eher etwas von der Machtgeschichte und dem Geltungsbedürfnis der venezianischen Oberschicht – und leider wohl auch von Geldgier der Kirche, die mit einer populären Wundersucht ihre Geschäfte gemacht hat –, als etwas von einer starken Frau, die um ihres Glaubens Willen ermordet wurde. Aber wie gesagt, wir sind hier auf Wallfahrt. Wir sind hier, um Gott zu suchen, und nicht um ein historisch wissenschaftliches Symposion abzuhalten.
Glauben heißt aber auch nicht, einen Kindergartenausflug zu machen, naiv die Legenden für historische Tatsachen zu halten – und eine Welt bricht zusammen, wenn es kein Christkind und keine wirkliche Barbara gibt. Und – um noch etwas will ich zum Schluss ausschließen: Es geht auch nicht darum, dass Fürbitten und Gebet hier einen höheren Marktwert hätten, mit einer besseren Erfolgsgarantie.
Die Legende und der Schrein haben ihren Wert, einen Wert für uns als Glaubende, ein Wert, der einer anderen Logik folgt als eine wissenschaftlich historische oder eine kindlich naive; und ihre Bedeutung hat auch nichts mit Magie zu tun. Nicht Gott verändert sich – du veränderst dich auf dem Weg hierher. Die Vorbereitung unterwegs und unsere besondere Offenheit an diesem Ort, die Zeit, die wir uns sonst für die wesentlichen Themen vielleicht nicht nehmen: diese sind es, die uns hier und heute bereit machen, die Botschaft des Himmels bereitwilliger auf- und anzunehmen als anderswo.
Wir Menschen brauchen menschliche Zeichen, um uns dem Ewigen zu nähern. Heiligenlegenden sind solche Versuche, über ein Leben in Gottes Gegenwart zu erzählen; der Reliquienschein ist solch ein Ort, damit wir die Gemeinschaft der Heiligen erspüren, die uns alle Getauften über Zeit und Ewigkeit vor Gottes Angesicht verbindet. Sie erzählen uns von der unbedingten Suche nach Gott. Manche meinen, das hätten nur wir Menschen erfunden. Ich sage, sie sind uns – in aller menschlichen Begrenztheit – von Gott geschenkt, damit wir durch Sie einen Blick auf das Wesentliche, auf den Wesentlichen – Gott – gewinnen.
Geschichten von gewalttätigen Vätern, die ihre Töchter beherrschen wollen, finden wir auch heute. Tiefenpsychologisch eröffnet das Bild des mit dem Schwert mordenden Vaters schreckliche Dimensionen. Auf einer nicht so dramatischen Ebene geht es einfach darum, dass Kinder ihren eigenen Weg finden und gehen dürfen. Verfolgung aufgrund standhafter christlicher Glaubensüberzeugung: Wer aufmerksam dafür ist, findet sie heute weltweit in erschreckendem Ausmaß. Aber wir finden auch Geschichten von Gottes Beistand, von der Erfahrung, getragen und geborgen zu sein trotz brutalster Gewalt und höchster Bedrängnis. Das sind Brücken von der Barbara-Legende zum heute.
Auch Glauben ist eine Dimension unseres Menschseins, aber eben nicht eine mathematische und nicht eine einfältige. Als erwachsene Menschen des 21. Jahrhunderts dürfen wir denken und fragen und mit der Gegenwart des Ewigen rechnen. Wir dürfen mit der Gewissheit leben, dass es in unserem Leben eine Dimension gibt, die sich nicht nur mit dem Bestehenden und Vorfindbaren zufrieden gibt. Dies zu vertiefen ist ein Ziel unseres Betens und Suchens an diesem besonderen Ort. Dass wir als Einzelne und als Gemeinschaft zu einem Mehr an Trost, Freude, Zuversicht und Hoffnung finden, zu mehr Leben. Amen.
Markus Himmelbauer, Burano 20.10.2018